Enteignung und Restitution in Bibliotheken
„Eines Tages werden wir die betrübliche Odyssee dieser Bücher schreiben, die Schülern, Lehrern und Buchfreunden im ganzen Land kubikmeterweise auf brutale Art entrissen worden waren. Erlesene Meisterwerke ebenso wie äuβerst seltene Exemplare wurden im selben Maβe geplündert wie Kriminalromane und Schulbücher […] Ein in Deutschland in einem Schloss wiedergefundenes Kinderbuch, ein Geburtstagsgeschenk für ein kleines Mädchen aus Frankreich, wie der Widmung zu entnehmen ist, enthält vielleicht mehr Vorwürfe als so manch anderer Hinweis.“
Vorwort, Manuscrits et livres précieux retrouvés en Allemagne. Exposition organisée par la Commission de récupération artistique [In Deutschland wiedergefundene Manuskripte und wertvolle Bücher. Ausstellung der Kommission für die Wiedererlangung von Kunstwerken], Bibliothèque nationale, 1949
An die von den Nazis geplünderten Kunstwerke erinnert sich die Öffentlichkeit noch mehr oder weniger, die Massenplünderungen der Privatbibliotheken hingegen sind total in Vergessenheit geraten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Buch gibt es meistens in mehrfacher Ausgabe, es ist kein Unikat wie ein Kunstwerk. Da es an sich also nichts Seltenes ist, findet es nur dann Beachtung, wenn es sich um ein Manuskript, eine Handschrift, ein altes Buch oder ein besonderes Archivstück handelt. Nun wurden aber erlesene oder auch gewöhnliche Bücher von den Nationalsozialisten in allen besetzten Ländern millionenfach geplündert, nach Deutschland verfrachtet oder nach endlosem Aussortieren irgendwo abgelagert.
Wieviele Bücher wurden in Frankreich beschlagnahmt? Niemand weiβ es. Das Répertoire des archives, manuscrits et livres rares spoliés [Verzeichnis der beschlagnahmten Archive, Manuskripte und seltenen Bücher] geht im Jahr 1949 von 20 Millionen aus.1 Da in dieser Ziffer die Archivbestände berücksichtigt wurden, können wir von den von der Bibliothekarin Jenny Delsaux (1896-1977) gemachten Schätzungen ausgehen, da sie, als Frankreich befreit wurde, Mitglied der Bücherkommission in der Commission de récupération artistique [Kommission für die Wiedererlangung von Kunstwerken] war,2 deren Angaben entsprechend die wiedergefundenen zwei Millionen Bücher „nur knapp 20 %“ des Diebstahls ausmachen. Das bedeutet, dass vielleicht zehn Millionen, mit Sicherheit aber mindestens fünf Millionen Bände den rechtmäβigen Besitzern gewaltsam entrissen worden waren.3
Vorsätzlich geplante Beschlagnahmungen
Dank der Vermittlung von den nach Frankreich entsandten Agenten, manchmal Forschern, Wissenschaftlern, Historikern, Kunsthistorikern oder über ihre Konservatoren, Archivare und Bibliothekare haben die Nationalsozialisten schon seit geraumer Zeit Kenntnis von den Sammlungen und Archivbeständen, auf die sie ein Anrecht geltend machten. Schon lange vor 1939 wissen sie bestens über die groβen jüdischen, freimaurerischen, russischen und polnischen Bibliotheken in Frankreich Bescheid und vervollständigen dann während des Krieges ihre Informationen, je weiter sich ihre Ansprüche entwickeln. Sie wissen ganz genau, was sie wollen und die Beschlagnahmungen sind kein Zufall.
Dreierlei Logik für Beschlagnahmungen, dreierlei zeitliche Bezüge
Noch mehr als bei Kunstwerken folgen die Beschlagnahmungen von Bibliotheken einer dreifachen Logik: sie sind kriegerisch, nationalistisch und antisemitisch.
Die der Kriegslogik entsprechenden Diebstähle scheinen, genauso wie in vielen anderen Konflikten, angesichts der anderen entsetzlichen, von den Nationalsozialisten durchgeführten Plünderungen „zur Tagesordnung“ zu gehören. Bereits im Juni 1940 entwendet der Besatzer Dokumente, auf die er Anspruch zu haben vorgibt, weil entweder Frankreich sie zwischen dem 15. und 20. Jh. gestohlen haben soll oder weil sie sich auf die Geschichte Deutschlands beziehen oder antinazistischen deutschen Emigranten gehören. Mögliche „Staatsgeheimnisse“ enthaltende Archivbestände und öffentliche Dokumente werden beschlagnahmt – etwa die Archivbestände und manchmal die Bibliotheken der strategisch wichtigen Ministerien (Kriegsministerium, Innenministerium, Auβenministerium1 usw.). Diese Kriegslogik führt auch zu Plünderungen und Gewalttaten bei in Frankreich angesehenen, für ihre antinazistische Haltung bekannten Personen sowie in freimaurerischen Einrichtungen und bei ihren Mitgliedern, die eher für ihre republikanische Einstellung und ihr Interesse an der Aufklärung verhasst sind als für ihre so oft angeprangerten Rituale und geheimen Mächte.
Eine weitere Logik entspricht dem auf Expansion ausgerichteten Nationalismus, dem Hitlers „Drittes Reich“ mit seinem Bestreben, die Kultur ganzer Bevölkerungsgruppen zu vernichten, sie einzudeutschen und nationalsozialistisch zu indoktrinieren, eine besondere Wendung gibt: in diesem Sinne werden Elsass und Mosel annektiert. Im Sommer 1940 werden die von Emigranten aus Mitteleuropa als Vereine gegründeten Bibliotheken – die polnische, die russische (Turgeniew), ukrainische (Petliura) Bibliothek etc. – nach Deutschland verfrachtet.
Die dritte Logik lässt sich direkt aus dem Nazi-Regime ableiten. Antisemitismus erklärt zum groβen Teil die in Bibliotheken angerichteten Schäden. Die groβen als Vereine funktionierenden jüdischen Bibliotheken werden bereits im Sommer 1940 beschlagnahmt (Alliance israélite universelle [Universelle Israelitische Allianz], [Vladimir] Medem etc.), parallel dazu aber auch Kunstsammlungen und Bibliotheken der wohlhabenden jüdischen Familien: die Bibliothek Rothschild zum Beispiel, in deren drei Abteilungen in Paris (Édouard, Robert, Edmond) sich Manuskripte befinden, die „mit viel Geduld zusammengetragen worden waren, zigtausende Inkunabeln und wertvolle Bände zählen, und vor allem eine reichhaltige jüdische Bibliothek“2. Im weiteren Verlauf des Krieges werden die Enteignungen dann systematischer und auch in weniger namhaften Fällen durchgeführt. Ihnen fallen vom zweiten Halbjahr 1942 an zigtausend jüdische Familien zum Opfer, die verfolgt werden, versteckt leben, sich in Gefängnissen befinden oder deportiert worden sind, wobei ihre Vermögensgüter beschlagnahmt werden und die oft bescheidenen Bibliotheken entweder nach Deutschland verfrachtet oder nach endlosem Aussortieren erst in französischen Lagern verstaut und dann vergessen werden. Bibliotheken zu Tausenden zu zerstören entspricht keinerlei Strategie, um deutsche Bibliotheken anzureichern, sondern einzig und allein dem Willen, eine Kultur bis auf ihre Erinnerung auszulöschen und mit dem Mord an den Menschen auch symbolisch ihren Geist zu vernichten.
Genauso wie im Fall der Kunstwerke konkurrieren auch bei den Plünderungen zahlreiche Akteure untereinander oder mit dem Regime in Vichy: die Botschaft des Otto Abetz, die Militärkommandos beim Überfall auf Frankreich, die Wehrmacht, die Gestapo, und vor allem der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR), der sich schnell zu einer allmächtigen Organisation entwickelt. Der Reichsleiter Alfred Rosenberg ist von Hitler damit beauftragt, die Kunstobjekte nach Deutschland zu transportieren und sie „in Sicherheit“ zu bringen. Mitte 1942 untersteht auch die Möbel-Aktion dem ERR.
Die Enteigneten
Das Vorhandensein einer Bibliothek ist, vor allem wenn der reichhaltige oder wertvolle Bestand zur Beschlagnahmung und Verschickung nach Deutschland führt, ein Zeugnis für einen starken Bezug zu Büchern, was die vielen intellektuellen und künstlerischen Berufe unter den Restitutionen beantragenden Personen erklärt. Unter den enteigneten Personen ist zudem eine unendliche Reihe weiterer Berufe zu finden, wie etwa Ärzte, Rechtsanwälte, Wissenschaftler oder Handwerker, die von Berufs wegen Zugang zu Büchern brauchten. Der Umfang der Bücherbestände ist umgekehrt proportional zur Zahl der enteigneten Personen: Die groβe Mehrheit der verfolgten jüdischen Familien besaβen kleine Bibliotheken.
Unter ihnen sind zahlreiche Akademiker und Universitätsprofessoren: Paul Léon, Direktor der Kunstbehörde und Kunstgeschichtsprofessor am Collège de France ebenso wie der in Buchenwald ermordete Soziologe Maurice Halbwachs oder der Germanist Edmond Vermeil (Professor für deutsche Kulturgeschichte); an der Sorbonne unterrichten der Philosoph Léon Brunschvicg, der verfolgt und 1944 dann ermordet wird, die beiden Spezialisten für mittelalterliche Geschichte Louis Halphen, dessen 10.000 Bände beschlagnahmt werden, und Gustave Cohen, der wie mehrere andere auch, das Manuskript seines in Arbeit befindlichen Buches verliert, aber auch der von 1941 bis 1945 in den USA im Exil lebende Philosoph Jean Wahl. Die Professoren Henri Lévy-Bruhl (dessen 3.000 Bände über Römisches Recht beschlagnahmt werden), Marc Bloch, Victor Basch, die beide von der französischen Miliz ermordet wurden, und noch viele weitere… Zahlreiche Schriftsteller, die oft auf der Otto-Liste der verbotenen Bücher stehen1, werden enteignet: Tristan Bernard, Emmanuel Berl, der in New York im Exil lebende André Maurois, Benjamin Crémieux (in Buchenwald ermordet, seine wertvolle, aus 8.000 - 10.000 Bänden bestehende Bibliothek wurde beschlagnahmt), Jacques de Lacretelle, Pierre Klossowski, Julien Benda etc. Die Privatbibliotheken und die Lagerbestände der Verleger Gaston Calmann-Lévy und Jacques Schiffrin, des ersten Herausgebers der Pléiade, etc. wurden beschlagnahmt.
Zahlreiche Galeristen, Antiquariatshändler, Kunsthändler, Kunstsammler, meistens jüdischer Herkunft, verlieren nicht nur ihre Kunstsammlungen, sondern auch ihre Bibliotheken. Der Deutsche Hans Fürstenberg (Jean Furstenberg), dem die französische Nationalbibliothek zahlreiche Schenkungen verdankt, zieht als ausgewanderter jüdischer, antinazistischer Kunstsammler und Kunsthändler gleich doppelten Hass auf sich und verliert sowohl seine Kunstwerke als auch seine Bibliothek: 7.500 Bände (französische Bücher mit Illustrationen aus dem 18. Jh. zu Kunst und Kunstgeschichte, lederne Einbände, historische Ausgaben, mehr als 300 Inkunabeln, zahlreiche Originalausgaben).2 Georges Wildenstein, dem das Vichy-Regime die französische Staatsbürgerschaft aberkannt hatte, wird 1940 enteignet: er verliert seine Kunstwerke und seinen Bibliotheksbestand mit Werken von zeitgenössischen Autoren, Originalausgaben, Originalgrafiken und einigen frühen Manuskripten.3 Der Kunsthändler und Galerist Paul Rosenberg wird all seiner Kunstwerke beraubt, die er nicht beizeiten ins Ausland geschickt hat, sowie seiner 3.000 Bände umfassenden Berufsbibliothek, zu der 800 Kunstbücher mit vielen persönlichen Widmungen gehörten und 800 Bände Fachliteratur, darunter Auktionskataloge der Jahre 1938 und 1939.4 Beim Bankier und Kunstsammler David David-Weill, Ratspräsident der Staatlichen Museen in Frankreich, dem die öffentlichen Sammlungen des Landes zahlreiche Schenkungen verdanken, werden mehr als 2.500 Kunstwerke beschlagnahmt; seine reichhaltige, bei einem Speditionsunternehmen zwischengelagerte Kunstbibliothek wird im Juni 1943 von den deutschen Besatzern in acht Transporten nach Deutschland verfrachtet.5 Die geraubten Kunstwerke und mehrere hundert mit Notizen versehenen Auktionskataloge des Galeristen Georges Bernheim werden genauso wie mehrere hundert Kunstbücher und Literaturbände 1949 in Österreich wiedergefunden;6 kein einziges Buch aus der Kunstbibliothek von Marcel Bernheim, ebenfalls Galerist seines Zeichens, konnte restituiert werden.
Der in München, Lausanne, Berlin und London vertretene Galerist Justin Thannhauser flüchtet 1937 aus Deutschland und geht 1940 nach New York ins Exil. Ein Teil seiner Kunstwerke und eine 1.000 Kunstbände umfassende Bibliothek, zu der auch Spezialausgaben gehören, werden beschlagnahmt; etwas weniger als 200 davon können ihm nach dem Krieg restituiert werden.7 Hugo Perls eröffnet im Jahr 1921 die Galerie Kate Perls in Berlin und stellt Werke von Munch, Picasso, Monet, Van Gogh und Cézanne aus. Seit 1931 lebte er schon unter Verzicht auf seine deutsche Staatsangehörigkeit im französischen Exil, bevor er 1941 in die USA auswandert. Sein Vermögen, seine Kunstwerke und seine 8.000 Bände umfassende Bibliothek sowie die Lagerbestände seines Katalogs, die er in einem Möbellager untergebracht hatte, werden von Bruno Lohse, dem Stellvertreter Alfred Rosenbergs, der den ERR leitet, beschlagnahmt: Werke der griechischen und lateinischen Klassik, Werke der Literatur, Bücher über Kunstgeschichte, Bände mit Lithografien von Vuillard, Picasso, Bonnard und Renoir. Am meisten leidet Perls, der sich nicht als Kunsthändler, sondern als Schriftsteller und Platon-Experte versteht, unter dem Verlust seiner aus philosophischen und literarischen Werken bestehenden Bibliothek: „Das Schlimmste, was mir passieren könnte, wäre es, die Bücher zu verlieren, die ich seit meinem elften Lebensjahr gesammelt habe. Ich bin nämlich Schriftsteller, verstehen Sie, und sie fehlen mir.“8 Eine Vielzahl weiterer Kunstsammler und Kunsthändler wurden ebenfalls enteignet.
Wiederfinden und restituieren: die für Bücher zuständige Kommission zur Wiedererlangung von Kunstbesitz - Commission de récupération artistique
Jenny Delsaux ist Bibliothekarin an der Sorbonne und erklärt sich bereit, sich um die Arbeiten der Unterkommission zu kümmern. Sie macht dies von Juni 1945 bis Ende 1950, wobei sie sich bei dieser kräftezerrenden Tätigkeit unermüdlich verausgabt: Es gilt, die Lagerorte der beschlagnahmten und inzwischen über ganz Frankreich, ja schlimmer noch, im gesamten (ehemaligen) Deutschen Reich verstreuten Sammlungen wiederzufinden, die Objekte zurückzuholen, sie zu ordnen, zu identifizieren und möglichst viele Werke möglichst vielen Enteigneten zu restituieren.
Und das Ganze mit lächerlich wenig Personal und ebenso wenig zur Verfügung stehenden Mitteln, sodass die Dienststelle andauernd Gefahr läuft, geschlossen zu werden. Angesichts der Sintflut an Büchern und der berechtigten Ungeduld der von den Beschlagnahmungen betroffenen Personen darf die Unterkommission auch Bücher zuteilen, deren Eigentümer nicht bekannt sind, die aber möglichst dem Bedarf der geschädigten Personen entsprechen. Zur gleichen Zeit arbeiten zwei weitere Unterkommissionen für das Gebiet Alsace-Moselle [Elsass-Mosel], die sich um die Restitution von Büchern kümmern, und zwar in Straβburg und in Metz, die 850.000 Bücher wieder finden1, zu deren Aktivitäten es jedoch keine Restitutions- oder Zuteilungsbilanzen gibt.
Bis Ende 1949, als sie ihre Arbeit einstellen muss, klassifiziert, restituiert und verteilt die für Bücher zuständige Unterkommission 1.003.100 Bände. In Paris wurden 260.000 Bücher wiedergefunden. Nach langwierigen und komplizierten Nachforschungen in den von den Alliierten besetzten Zonen, kommen ganze Wagonladungen mit Kisten aus Deutschland an – insgesamt 773.100 Bücher. Gleichzeitig können groβe, intakt gebliebene Sammlungen, die etwa an der Hohen Schule der NSDAP zwischengelagert gewesen waren, direkt an ihre Eigentümer zurückgegeben werden. Da die Bombardierungen der Alliierten jedoch 1943 zunehmen, werden groβe, beschlagnahmte Sammlungen in den Osten Deutschlands und teilweise nach Österreich evakuiert, wo sie später von der Roten Armee beschlagnahmt werden. Millionen von Büchern und Archivalien aus den eroberten Ländern werden nach Moskau transportiert und daraufhin über die ganze Sowjetunion verteilt. Die vereinzelte Rückgabe von Archivalien und Büchern aus Moskau in den 1990er Jahren wurde jedoch bald abgebrochen und die entzogenen Güter gelten heutzutage als „kriegsbedingt verlagert“ bzw. legale „Kriegsbeute“ angesichts der ertragenen Leiden.
Unsere auf der Webseite des Mémorial de la Shoah [Schoah-Gedenkstätte] einsehbare Datenbank2 enthält ein Repertoire mit 2.250 Personennamen und 410 Institutionen, an die etwa 555.000 Bücher oder gedruckte Zeitschriften, Manuskripte, ikonografische Dokumente oder Archivstücke restituiert worden sind. Nur ein Teil der beschlagnahmten Bücher konnte wiedergefunden werden. Ebenso stellte nur ein kleiner Teil der Enteigneten, die zu ihren Büchern eine besondere Beziehung haben, einen Antrag auf Restitution: die meisten jüdischen Familien, sofern sie überlebt haben, besaβen kleine Bibliotheken und hatten bei der Befreiung Frankreichs andere, viel gröβere Sorgen. Wieviele Bücher wurden im Laufe der Beschlagnahmungen oder verschiedenen Umverteilungsaktionen in Frankreich und in Deutschland zerstört, wieviele wurden gestohlen? Wieviele sind verschwunden? Wieviele befinden sich noch in den osteuropäischen Ländern? Das kann niemand genau sagen.
Ende der Restitutionen. Was geschieht mit den nicht restituierten Büchern? Die Auswahlkommission
Angesichts der noch etwa 700.000 zu restituierenden Dokumente muss die französische Regierung der Nachkriegszeit, die die Angelegenheit gerne vergessen würde, eine rechtliche Grundlage dafür schaffen. Die öffentlichen Bibliotheken haben die Möglichkeit, bei der Domänenverwaltung aufgelistete, wiedergefundene Bücher und „gewöhnliche“ Zeitschriften (ungefähr 300.000 Bücher oder Periodika) zu kaufen, und zwar zu einem sehr niedrigen Preis. Ende September des Jahres 1949 wird innerhalb des Bildungsministeriums eine Sonderkommission eingerichtet, die damit beauftragt wird, an öffentliche Bibliotheken ungefähr 15.450 seltene, wertvolle oder sehr spezifische Bücher und Dokumente abzugeben.1
Von 1949 bis 1953 tritt die Auswahlkommission vier Mal zusammen. Rückblickend orientieren sich ihre Kriterien an zwei Gesichtspunkten: Hilfe für Bibliotheken, deren Sammlungen im Krieg zerstört worden sind; Schutz wertvoller oder seltener Dokumente durch Aufnahme in den Bestand von mit dem Erhalt von Kulturerbe beauftragten Bibliotheken. Im Grunde handelt es um ein Deponat und nicht um eine Zuteilung, schreibt der nach Buchenwald deportierte Julien Cain, als er seine Arbeit als Direktor der Bibliothèque nationale [Französische Nationalbibliothek] wieder fortsetzt und die neu eingerichtete Direction des bibliothèques et de la lecture publique [Direktion der staatlichen und öffentlichen Bibliotheken] im französischen Bildungsministerium übernimmt. Diese Dokumente werden in 42 Bibliotheken – 22 Forschungsbibliotheken und 20 öffentlichen Bibliotheken – hinterlegt. Viel zahlreicher fallen allerdings die Deponate in den für das Kulturerbe verantwortlichen Bibliotheken aus: die französische Nationalbibliothek erhält nahezu 4.000 Dokumente.
Verloren gegangene … und zurückeroberte Erinnerungen
Da die Bibliotheken sich (allzu) genau an die Vorgaben für die Deposita halten, bewahren sie die Dokumente in Kisten auf, klassifizieren sie dann ungeachtet ihrer Herkunft und, in den 1960er Jahren, übernehmen sie sie meist in ihre Bestände. Das angestellte Personal vergisst dabei, dass es sich bei diesen Beständen um Deposita von enteigneten Konvoluten handelt: man kennt sie nur mehr als „MNR des bibliothèques“ [MNR-Inventar der Bibliotheken]. Als wir diese Zuteilungen entdeckten, zu denen es glücklicherweise noch Listen in den Archives nationales françaises [Französisches Staatsarchiv] gab1, wandten wir uns 2015 mit der Bitte an die Bibliotheken, diese Dokumente herauszusuchen. Diese heute fast abgeschlossene Arbeit führte mitunter dazu, dass weitere beschlagnahmte Bücher entdeckt wurden, von denen nach wie vor nicht bekannt ist, wie sie in die Regale gekommen waren… Dies führt nur in sehr seltenen Fällen zu Restitutionen, weil die meisten Bücher keinen Hinweis auf ihre Eigentümer enthalten, doch es gab bereichernde Entdeckungen zur Geschichte der Bibliotheken, der Besatzungszeit und der Schoah. Einmal mehr bestätigte sich, dass das geschriebene Wort bedauerlicherweise eine herausragende, facettenreiche Stellung für den Ausbau der nationalsozialistischen Macht besaβ.
Etliche Aspekte der Geschichte der beschlagnahmten Bibliotheken im Zweiten Weltkrieg liegen weiterhin im Dunkeln. Millionenfach sind Bücher nicht vom Ort ihres Exils zurückgekehrt. Eine sehr groβe Anzahl unter ihnen blieb, wie Patricia Kennedy Grimsted, die herausragende Kennerin dieser europäischen Irrfahrten es formuliert, „far away from home“2. Die in der Nachkriegszeit nach Deutschland, Österreich und Polen entsandten Beauftragten hatten noch angenommen, die öffentlichen Bibliotheken in Deutschland hätten keine beschlagnahmten Bücher erhalten. Gegenwärtig stellt man fest, dass sie in Wirklichkeit Unmengen von solchen Büchern in ihren Beständen haben und sich bemühen, sie ihren legitimen Eigentümern zurückzuerstatten.
Basisdaten
Personne / personne
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