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Methode

Elisabeth Furtwängler und Ines Rotermund-Reynard

Dezember 2021 


Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist das Wissen über den Transfer, den Handel und die Enteignung von Kunstwerken in Frankreich während der deutschen Besatzung, wenn auch stetig wachsend, so doch immer noch lückenhaft. Bisher fehlte eine umfassende Identifizierung der verschiedenen Akteure des Kunstmarkts in dieser Zeit, der von ihnen durchgeführten Transaktionen sowie der Werke, die durch ihre Hände gingen, obwohl diese Informationen für die Dokumentation sowie für die Erforschung der Geschichte und der Herkunft von Werken unerlässlich sind. Diesem Desiderat nimmt sich das Repertorium der Akteure des französischen Kunstmarkts während der deutschen Besatzung an.


Eine besondere deutsch-französische Zusammenarbeit, die sich in einen erst kürzlich in Frankreich bekräftigten, ethischen Auftrag einfügt


Das Repertorium der Akteure des französischen Kunstmarkts während der deutschen Besatzung ist das Ergebnis einer einzigartigen deutsch-französischen Kooperation zwischen dem Institut national d’histoire de l’art (INHA) in Paris und der Technischen Universität Berlin (TU). Seit Juni 2017 arbeiten die Projektpartner an der Entwicklung eines Repertoriums, welches auf deutscher Seite vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK) und der TU Berlin, auf französischer Seite aus eigenen Mitteln und mit Unterstützung eines anonymen Geldgebers finanziert wird.

Seit 2018 bekräftigt die französische Politik ihren Willen, die Provenienzforschung zu verbessern. Zu diesem Zweck wurden bestehende Strukturen – die Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen (CIVS ) sowie den Service des Musées de France – zusammengeführt und die Mission zur Erforschung und Restitution von zwischen 1944 und 1945 geraubten Kulturgütern eingerichtet, um sich proaktiv der ethischen Verantwortung zu stellen, die Geschichte der Enteignungen des Zweiten Weltkriegs aufzuarbeiten. Das Repertorium ist Teil dieser neuen Dynamik.


Ziele des Repertoriums und Auswahl der Akteure


Das Phänomen des Pariser Kunstmarkts während der Besatzungszeit ist nicht nur Teil einer Epoche, sondern auch Teil eines ganz besonderen Raums. Diesen städtischen Raum gilt es zu erforschen, indem die Aktivitäten der verschiedenen Akteure in ihrem spezifischen historischen Kontext analysiert werden. Chronotopische Feldforschungen erfordern eine Vielzahl von Perspektiven. Ein und dasselbe künstlerische Ereignis wird aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, die alle zusammen den historischen Raum rekonstruieren, in dem es stattgefunden hat. Die Quellenarbeit führt in verschiedene Archive und Sammlungen. Keine Gruppe, kein Genre, keine Perspektive darf vernachlässigt werden, wenn wir das Mosaik des Pariser Kunstmarkts zusammensetzen und ihn in seiner räumlichen und zeitlichen Einheit sichtbar machen wollen.  

Zu Beginn des Projekts trafen die beiden Projektleiterinnen Ines Rotermund-Reynard (in Paris) und Elisabeth Furtwängler (in Berlin) eine erste Auswahl von etwa 220 Akteuren des Kunstmarkts. Zu diesem Zweck wurden die Ressourcen der US-Archive, die "Red-Flag-List" aus dem Abschlussbericht der Art Looting Investigation Group, die Lieferliste des Transportunternehmens Schenker, die Akten der Kommission zur Wiedererlangung von Kunstwerken, (hier insbesondere die Adresslisten von Friedrich Welz), die Akten der "profits illicites " [Unlauteren Gewinne] (Archives de Paris) und die Akten der " Commission nationale interprofessionnelle dépuration“ [nationale berufsübergreifenden Säuberungskommission] (Archives nationales) herangezogen und mit den aus dem in Moskau aufbewahrten Bestand "Sonderkonto Frankreich" identifizieren Namen abgeglichen, sowie mit den Dokumenten der Mission Mattéoli.


Neuigkeiten aus den französischen Archivbeständen


Die Aktualität des Repertorium der Akteure des französischen Kunstmarkts während der deutschen Besatzung steht in direktem Zusammenhang mit der Situation der französischen Archivbestände, die nun nach und nach für die Forschung zugänglich gemacht werden. Nach französischem Recht dürfen persönliche Dokumente, die beispielsweise im Rahmen einer gerichtlichen Untersuchung gesammelt wurden, erst nach einer Frist von 75 Jahren[1] freigegeben werden. Die gleiche Frist gilt für die "minutes et procès-verbaux de ventes" [~ Minutenprotokolle und Auktionsdokumentationen] der Auktionatoren. Im Jahr 2015 wurde eine gesetzliche Ausnahmeregelung für Archive aus dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet. Die zahlreichen betroffenen Bestände, die im Rahmen von RAMA ausgewertet wurden, sind daher erst seit sehr kurzer Zeit zugänglich, während andere gegenwärtig noch inventarisiert werden.[2]

Zu den Archiven, aus denen das Repertorium gespeist wurde, gehören die Gerichtsakten der "Commission nationale interprofessionnelle dépuration" (Archives nationales) und des "Comité de confiscation des profits illicites" [Komitees für die Enteignung unlauterer Gewinne] (Archives de Paris); die Bestände von Rose Valland und der "Commission de récupération artistique "  [Kommission zur Wiedererlangung von Kunstwerken] in den Archives diplomatiques in La Courneuve sind in dieser Hinsicht von größter Bedeutung. Die "minutes et procès-verbaux de ventes", die zu einem großen Teil ebenfalls im Pariser Archiv aufbewahrt werden, liefern uns wichtige Informationen über bestimmte Akteure auf dem Markt.

Die Covid-19 Pandemie, die für Historiker und Historikerinnen ebenso wie für die gesamte Bevölkerung mit der Schließung öffentlicher Einrichtungen, Schwierigkeiten und Beschränkungen aller Art verbunden war, erschwerte die Vollendung der Forschungsaufgaben. Einige Archivbestände konnten bis heute nicht eingesehen werden, insbesondere die Bestände des Zentraldepots des Archivs der Militärjustiz in Le Blanc (Indre), ein Teil der Dokumentation des Musée d‘Orsay und einige Bestände des Politischen Archivs in Berlin. Gleichzeitig hat jedoch die Bibliothek des INHA vor kurzem Bestände erworben, die für das Repertorium von besonderem Interesse sind, insbesondere bezüglich des Auktionators Alphonse Bellier. Zu diesem Bestand hatten die Forscher teilweise schon vorab, während seiner Inventarisierung, Zugang.

Dieses neue Archivmaterial, das häufig private und sensible Daten enthält, konnte vom Forschungsteam mit größter Aufmerksamkeit, äußerster Vorsicht und historisch-kritischer Distanz ausgewertet werden. Es geht nicht darum, eine Täterdatenbank zu erstellen, sondern sich historisch mit den verschiedenen Grauzonen und zahlreichen Nuancen eines sehr komplexen Themas auseinanderzusetzen, seine Strukturen aufzudecken und die Quellen einer kritischen Befragung zu unterziehen. Die Auswertung des im Bundesarchiv Koblenz befindlichen, unterdessen in Teilen online zugänglichen Privatnachlasses Gurlitts hat beispielsweise gezeigt, dass einige Kunsthändler, die oft jüdischer Herkunft waren oder Beziehungen zu jüdischen Verwandten hatten, während der Besatzungszeit auf dem Pariser Kunstmarkt aktiv waren. So taucht der Name Jean (Hans) Lenthal in Verbindung mit dem Experten André Schoeller und anderen Pariser Kunsthändlern auf. Aus Gurlitts Geschäftsunterlagen geht hervor, dass Lenthal eine große Anzahl von Kunstwerken verdächtiger Herkunft verkauft habe. Der jüdische Immigrant Jean Lenthal wurde gegen Ende des Krieges deportiert und überlebte. Aus seinem Briefwechsel, den er nach dem Krieg mit Gurlitt begann, geht hervor, dass er seinen Namen als Tarnung angegeben hatte, um die wahren Eigentümer der Kunstwerke, die an Deutsche verkauft wurden, zu verschleiern. Dieses Beispiel zeigt, wie notwendig es ist, historische Quellen mit äußerster Vorsicht zu behandeln, um keine zu voreiligen Urteile zu fällen. 


Von der Notwendigkeit des wechselseitigen Blicks: Komplementäre französische und deutsche Archivbestände


Erst durch die Gegenüberstellung und den Vergleich der deutschen und französischen Bestände kann das Netzwerk der Akteure auf dem Kunstmarkt entschlüsselt werden. Die französischen Bestände (unlautere Gewinne, Säuberungsakten) enthalten zahlreiche Informationen über die deutschen Akteure. Auf deutscher Seite existieren weitere Quellen zu Museumskäufen, die zum Teil erstmals ausgewertet wurden und Informationen über französische Akteure liefern. Sie enthalten umfängliche persönliche Korrespondenzen, welche, wie im zuvor genannten Beispiel von Jean Lenthal, in Ergänzung zu den Verkaufsdokumenten, die Abwicklung der Geschäfte und die bestehende Verbindung zwischen den Akteuren erst greifbar werden lassen. Die Neuheit des Repertoriums besteht darin, dass diese Quellen so systematisch wie möglich miteinander verknüpft werden. Bisher waren viele dieser Quellen unzugänglich, nicht ausgewertet und nicht in einen internationalen Kontext gestellt, obwohl der Kunstmarkt in Frankreich während der Besatzungszeit weder in einem rein französischen noch in einem rein deutschen Rahmen verstanden werden kann. Aus diesem Grund wollten die Projektleiterinnen einen Großteil der Forschungsgemeinschaft, die sich mit diesen Fragen bereits beschäftigt, zusammenbringen. Rund siebzig Autorinnen und Autoren wurden gebeten, mehr als 150 biografische Artikel zu verfassen, die ins Französische und Deutsche übersetzt wurden (die englische Version ist für 2022 geplant). Diese Texte bilden das Herzstück dieses europäischen Projekts. Es galt, die AutorInnen mit Quellenhinweisen aus den eigenen Recherchen zu unterstützen, Informationen weiterzuleiten, die Forschenden miteinander in Kontakt und Austausch zu bringen, wo sich inhaltlich Anknüpfungspunkte abzeichneten, und so den größtmöglichen Erkenntnisgewinn über einzelne Akteure und ihre Aktivitäten zu erlangen.    Ergänzt werden die Artikel durch etwa 830 Dokumentationsnotizen, die sich auf Sachdaten zu natürlichen oder juristischen Personen beziehen: Sie ermöglichen die Visualisierung der komplexen Netzwerke, durch die die Werke gereist sind, und geben die genauen bibliografischen und archivalischen Quellen an.


RAMA: ein frei zugängliches Instrument in Bewegung


Das Repertorium soll in den kommenden Jahren weiter ausgebaut werden. Es wird in der Open-Access-Datenbank des INHA, AGORHA, gehostet. Die Texte und Bilder werden und in einer neuen, eigens entwickelten, redaktionell gestalteten Website zur Verfügung gestellt. Dieses Tool bietet einen wesentlichen Beitrag zur historischen und kunsthistorischen Analyse und zum Verständnis der Besatzungszeit. Es handelt sich um eine kostenlose Ressource die Bürgern, Forschern oder Fachleuten aus der Kunstwelt offensteht, also allen, die die Funktionsweise des Kunstmarkts in dieser Zeit verstehen wollen oder die Herkunft eines Werks überprüfen möchten, ganz gleich, ob es sich in öffentlichen Sammlungen, in Privatbesitz oder auf dem Markt befindet.


[1]https://francearchives.fr/fr/article/26287562

[2]https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?