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Das französische Restitutions- und Entschädigungsmodell für die zwischen 1940 und 1945 enteigneten Kulturgüter. Ein juristisch und verwaltungsrechtlich einmaliges Modell

28/09/2023 Répertoire des acteurs du marché de l'art en France sous l'Occupation, 1940-1945, RAMA (FR)

Knapp achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wirkt der Konflikt in gewisser Weise immer noch nach, was die derzeitigen Ereignisse auf juristischer und verwaltungsrechtlicher Ebene bezeugen. Dies betrifft insbesondere die Beschlagnahmungen beweglicher kultureller Vermögensgüter, von denen in Frankreich während der Besatzungszeit vor allem Juden betroffen waren. Da der französische Staat bemüht war, die Opfer für das zugefügte Unrecht zu entschädigen, wurde ein originelles Wiedergutmachungsmodell entwickelt, das zwei Möglichkeiten für Privatpersonen vorsah, um entzogene Kulturgüter zurückzuerlangen:
die juristische Version, die bestätigte, dass Frankreich sehr bald schon nach Gerechtigkeit strebte (1.), und eine gleich nach der Befreiung in die Wege geleitete verwaltungsrechtliche Version, die nach einer gewissen Latenzzeit im Rahmen einer öffentlichen Reparationspolitik seit den späten 1990er Jahren wieder zur Sprache kommt (2.).

Gerichtlich angeordnete Restitutionen gemäβ der Verordnung vom 21. April 1945

Als Folge der vom Vichy-Regime zwischen 1940 und 19451 betriebenen Enteignungspolitik erlässt der Gesetzgeber nach der Befreiung Frankreichs am 21. April 1945 eine Verordnung2 als Fortsetzung der den Zwangsenteignungen und der „Arisierung“ der Wirtschaft seit dem Jahr 1943 entgegenwirkenden Maβnahmen.3

Der Text besteht aus zwei Befugnissen, die den enteigneten Besitzern die Möglichkeit bieten, sich auf die Tatsache zu berufen, dass die Vermögensgüter, deren Rückgabe sie fordern, zur Zeit der Besatzung entzogen worden waren.4

Die Befugnis I behandelt die nach dem 16. Juni 1940 vorsätzlich erfolgten, exorbitanten, das Gemeinrecht betreffenden Beschlagnahmungen (Enteignungen, Zwangsverkäufe etc.), ohne zwischen den Opfern zu differenzieren, und erklärt sie für null und nichtig (Artikel 1 und 2). 1945 hatte es der Gesetzgeber nämlich abgelehnt, die Besonderheit der Judenverfolgung (siehe weiter unten) rechtlich festzuschreiben, sondern formulierte den Text gewollt euphemistisch („exorbitante, das Gemeinrecht betreffende Maβnahmen“), wodurch es der Rechtsprechung oblag, die Rechtslage zugunsten der Opfer von antisemitischer Verfolgung zu interpretieren.5

Mehrere wichtige Artikel in dieser Befugnis betonen, dass in erster Linie die Opfer ihre Rechte zurückbekommen sollen, auch wenn so bei gewissen rechtlichen Grundlagen Ausnahmen gemacht werden müssen, etwa bei gutgläubigem Erwerb, Verjährung des Herausgabeanspruchs oder Ersitzung. Gemäβ Artikel 4 gelten somit der Erwerber oder die aufeinanderfolgenden Erwerber eines in der Besatzungszeit einem vorläufigen Verwalter übergebenen und dann zwangsversteigerten Kunstwerkes zum Beispiel als „bösgläubige Besitzer“. Diese Verfügung kam in jüngerer Zeit anlässlich der Sache Bauer zum Nachteil der Eheleute Toll zur Anwendung, die im Jahr 1995 ein Gemälde von Camille Pissarro, La cueillette des pois [~ Erbsenernte], , gutgläubig erworben hatten, das ursprünglich jedoch bei Simon Bauer beschlagnahmt und am 1. Oktober 1943 von seinem vorläufigen Verwalter verkauft worden war.6 Der Gesetzgeber wünschte also im Jahr 1945 mit diesem Artikel 4, entgegen der gemeinrechtlichen, den gutgläubigen Erwerber schützenden Regel, dass die aufeinanderfolgenden Erwerber als „bösgläubige Besitzer“ betrachtet werden, um dem Interesse des der Enteignung zum Opfer gefallenen Eigentümers Vorrang zu geben.7 Diese Argumentation ist auch heute noch vorherrschend, und zwar auch in Bezug auf bestimmte Grundrechte (Eigentumsrecht und Gleichbehandlungsgesetz)8. Eine Besonderheit jedoch, welche den Text der Verordnung vom 21. April zu etwas Spezifischem macht, ist die Tatsache, dass Artikel 4 in Zusammenhang mit Artikel 21 ihm eine potentiell zeitlose Tragweite verleiht, da er dem Richter die Möglichkeit bietet, den Antragsteller vom Rechtsausschluss in dem Fall zu befreien, wenn der der Enteignung zum Opfer gefallene Eigentümer den Beweis erbringen kann, dass es ihm in materieller Hinsicht, auch ohne dass höhere Gewalt ins Spiel gekommen wäre, unmöglich war, sich innerhalb der sechsmonatigen Frist nach Kriegsende um eine Restitution zu bemühen.9

Deshalb wurde die Verordnung, obwohl die Richter fünfzig Jahre lang, nämlich seit 1950, nicht mehr darauf Bezug genommen hatten, 1999 aufgrund eines Restitutionsurteils beim Berufungsgericht in Paris wieder aktuell, das fünf Gemälde aus dem MNR-Inventar (Rückführungsbestand der französischen Nationalmuseen) betraf. Im vorliegenden Rechtsstreit zögerte der Richter nicht, die Anspruchsberechtigten der Sammlung von Federico Gentili Di Giuseppe, die unter vorläufiger Verwaltung stand, als sie in der Besatzungszeit verkauft worden war, vom Rechtsausschluss zu entheben.10 Die Verordnung vom 21. April 1945 kam seither zweimal zur Anwendung, und zwar in den Angelegenheiten Simon Bauer und Angehörige Gimpel,11 und betrifft derzeit die Anspruchsberechtigten von Armand Dorville wegen eines Nichtigkeitsverfahrens zum, in der Besatzungszeit organisierten, Verkauf seiner Sammlung.

Nichtsdestotrotz ist sich der Gesetzgeber 1945 der Tatsache bewusst, dass nicht alle Gefahrsituationen in der Besatzungszeit mit der Befugnis I der Verordnung abgedeckt waren. Weitere Formen von Enteignung mussten, und zwar im Sinne der Londoner Erklärung vom 5. Januar 194212 und der o.g. Verordnung vom 12. November 1943, berücksichtigt werden. Deshalb erweitert die Befugnis II der Verordnung vom 21. April 1945 die zwangsweise und vorsätzlich erfolgten Beschlagnahmungen um jene, die „unter Zustimmung des enteigneten Eigentümers erfolgten und Vermögen, Rechte oder Interessen betrafen, die bis dahin nicht exorbitanten, das Gemeinrecht betreffenden Beschlagnahmungen zum Opfer gefallen waren“. Gemäβ Artikel 11 ist insbesondere davon auszugehen, dass bei bestimmten Aktionen, die mit Zustimmung der betroffenen Person durchgeführt wurden, „vermutlich Gewalt angewendet wurde“. Unter diesen Bedingungen konnte der Richter diese Maβnahme zugunsten der Personen jüdischer Herkunft zur Anwendung bringen, indem er schlussfolgerte, dass sie zur Zeit der Rassengesetze „beträchtlicher allgegenwärtiger Bosheit“, also Gewalt im Sinne des ehemaligen Artikels 1112 des Code Civil [Französisches BGB] ausgesetzt waren. Diese Verfügung ebnete den Nichtigkeitserklärungen von anscheinend legalen Geschäften mit Kunstwerken den Weg. Allerdings wird im Artikel 11 präzisiert, dass vermutliche Gewaltanwendung widerlegbar ist, wenn die Transaktion zu einem angemessenen Preis abgeschlossen wurde. Wenn ein angemessener Preis ausgeschlossen wird, muss der Antragsteller nachweisen, dass das Geschäft unter Zwang zustande gekommen ist. Gelingt es ihm, diesen Nachweis zu erbringen, kann er die Nichtigkeitserklärung der Transaktion und die Restitution des Vermögensguts beantragen und der bezahlte Preis wird ihm erstattet. Die gröβte Schwierigkeit besteht in diesem Fall darin, diesen Beweis vorzulegen. Im Rechtsstreit um die Gemälde von Derain, die bei René Gimpel in der Besatzungszeit beschlagnahmt worden waren, wurden diese deshalb vom Berufungsgericht in Paris den Anspruchsberechtigten von Gimpel zugesprochen, wobei diese auf den Artikel 11 Bezug nahmen, wogegen diese Zwangsverkäufe nur im Sinne von Artikel 1 beurteilt wurden.

Auch wenn sie selten waren, kam es bezugnehmend auf die Verordnung vom 21. April 1945 doch zwischen 1999 und 2020 zu drei vom Gericht zugesprochenen Restitutionen von insgesamt neun Raubkunstfällen aus dem Zweiten Weltkrieg.13 Dass dieser Text fünfzig Jahre nach der erlassenen Verordnung wieder aktuell wurde, ist kein Zufall. Er ist Teil einer öffentlichen Reparationspolitik im Zusammenhang mit den Verfolgungen und Enteignungen von Juden in der Besatzungszeit in Frankreich.

Verwaltungsrechtliche Entschädigungen infolge einer öffentlichen Reparationspolitik

Dank der recht bald vom Comité français de libération nationale [CFLN, Komitee für die Nationale Befreiung] geschaffenen juristischen Grundlagen, welche die in der Besatzungszeit vorsätzlich erfolgten, exorbitanten, das Gemeinrecht betreffenden Beschlagnahmungen verurteilten und für null und nichtig erklärten, hat Frankreich unmittelbar nach der Liberation ein System zur automatischen Entschädigung der zahlreichen, den Enteignungen von Vermögensgütern zum Opfer gefallenen Personen jüdischer Herkunft eingeführt, obwohl die französische Regierung, wie aus der Verordnung vom 21. April 1945 zu ersehen ist, sich bewusst nicht  ausdrücklich  auf eine besondere Kategorie von Opfern festgelegt hat, da in dieser Zeit die nationale Einheit für den materiellen und moralischen Wiederaufbau des Landes unerlässlich war.1

Die Verfahren materieller Restitutionen obliegen dem Office des biens et intérêts privés [OBIP, Amt für private Vermögenswerte und Ersatzansprüche],2 das mit der Auflistung sämtlicher beschlagnahmter Vermögensgüter von Privatpersonen beauftragt ist, und einer in erster Linie auf die Wiedererlangung von enteigneten Kunstwerken spezialisierten Einrichtung, der Commission de récupération artistique [CRA, Kommission für die Wiedererlangung von Kunstbesitz]3, die am 24. November 19444 durch einen Ministerialerlass des Bildungsministeriums ins Leben gerufen wurde. Beide Behörden arbeiten zwischen 1940 und 1945 insbesondere für die Restitution von beweglichen Kulturgütern an die der Enteignung zum Opfer gefallenen Eigentümer zusammen.

Obwohl davon auszugehen ist, dass insgesamt etwa 100.000 bewegliche Kulturgüter in der Besatzungszeit entzogen worden waren, wurden in den Jahren zwischen 1944 und 1949 ungefähr 60.000 Objekte wieder aufgefunden und nach Frankreich zurückgebracht, von denen jedoch längst nicht alle Gegenstände aus dem Kunstraub kamen, sondern auch aus dem Kunsthandel.5 Etwas mehr als 45.000 Objekte konnten identifiziert und restituiert werden, aber nur 416 Eigentümer von einer Rückgabe profitieren. Nichtsdestoweniger konnten etwa 15.000 Objekte nicht an die Eigentümer zurückerstattet werden, da diese entweder keinen entsprechenden Antrag auf Rückgabe gestellt oder Frankreich sie nicht identifiziert hatte. Da jedoch der Gesetzgeber eine Verjährungsfrist festgelegt hatte, nach deren Ablauf keinerlei Antrag mehr gestellt werden konnte,6 war beschlossen worden, dass die nicht zurückgeforderten Vermögensobjekte von der Domänenverwaltung veräuβert werden sollten. Der Erlass vom 30. September 19497 ruft somit ad hoc zwei Einrichtungen, die sog. „Sonderkommissionen“8 ins Leben, die den Auftrag haben, unter den 15.000 nicht zurückerstatteten Objekten jene auszuwählen, die aufgrund ihres Wertes in die öffentlichen Sammlungen eingehen sollten. Zwischen Oktober 1949 und Juni 1953 bestimmen die Auswahlkommissionen etwa 2.100 Kulturgüter, welche die französischen Nationalmuseen bis zu einer eventuellen Rückgabe provisorisch in ihren Bestand aufnehmen. Diese Objekte werden in das Inventar des sog. Rückführungsbestands der französischen Nationalmuseen aufgenommen und sind seither unter dem Oberbegriff MNR-Inventar bekannt (Musées nationaux Récupération). Die restlichen 13.000 Objekte, die nicht in die Auswahl gelangen, übergibt das OBIP der Domänenverwaltung zum Verkauf und der Erlös flieβt in den Wiederaufbau des Landes.

Anfang der 1950er Jahre sinkt die Zahl der Rückerstattungsanträge und die Restitutionen stagnieren. Dies ist dadurch zu erklären, dass einerseits die Familien ihre Hoffnungen aufgegeben haben, andererseits die politischen Interessen eher dem Wiederaufbau als der Wiedergutmachung gelten.9 So werden zwischen 1953 und 1993 nur sechs bewegliche Kulturgüter angeführt.10 Mit den 1990er Jahren beginnt eine neue Zeit, in der die Restitutionen zahlenmäβig wieder zunehmen. Etliche journalistische Recherchen11 und universitäre Forschung12 fördern ein wahrhaftes „verschwundenes Museum“13 zutage, das sich in den französischen Sammlungen, in den Botschaften und in den Ministerien verstreut den Blicken entzieht. Sie bestehen darauf, dass eine Reparationsschuld existiert, die zu politischem Handeln verpflichtet. In einer anlässlich des Jahrestages der Razzia am Vélodrome d’Hiver (Vél‘ d’Hiv‘) am 16. Juli 1995 gehaltenen Rede erklärt der französische Präsident Jacques Chirac, dass der Staat den Opfern gegenüber nach wie vor „eine unverjährbare Schuld“ innehat. Das ist der Beginn einer öffentlichen Reparationspolitik, die in materieller Hinsicht infolge des Abschlussberichts der von Jean Mattéoli geleiteten Untersuchung zur Enteignung der Juden in Frankreich einsetzt. Die Arbeiten dieser Untersuchungskommission sind in Bezug auf die damaligen internationalen Ereignisse zu verstehen, durch die das Problem der im Zweiten Weltkrieg entzogenen Güter zutage trat.14

Nach Übergabe des Abschlussberichts der Mattéoli-Kommission und auf Empfehlung ihres Präsidenten hin wird 1999 eine Commission pour l’indemnisation des victimes de spoliations [CIVS, Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen] geschaffen, die aufgrund der in der Besatzungszeit geltenden antisemitischen Rassengesetzgebung stattgefunden haben.15 Die CIVS ist eine zum Zwecke von Reparationen geschaffene, nicht Recht sprechende Instanz und soll die in dieser Zeit immer zahlreicher werdenden privaten Anträge bearbeiten. Zudem kann sie dem Premierminister, da sie zu dessen Arbeitsbereich gehört, Empfehlungen hinsichtlich der Entschädigung oder Restitution von den in der Besatzungszeit beschlagnahmten, beweglichen Kulturgütern aussprechen. Diese auf Gerichtsbarkeit basierende Mission hat zu einer originellen Form der Entscheidungsfindung geführt, bei der ausgleichende Gerechtigkeit im Mittelpunkt steht und jeder Fall einzeln behandelt wird; solch eine auf Gerechtigkeit basierende Kasuistik verknüpft automatisch den Respekt des geltenden Rechts mit einer moralischen Verpflichtung zur Wiedergutmachung. Der auβergewöhnliche, allgemeinrechtliche Charakter eines solchen Vorgehens kann nur im Sinne der o. g. Reparationspolitik verstanden werden. In sozialer und politischer Hinsicht begann sie Anfang der 1970er Jahre mit der Anerkennung des Genozids an den Juden als wichtiger Tatbestand des Krieges, die Verantwortung bei den Verfolgungen in der Besatzungszeit hat der französische Staat aber erst im Jahre 1995 offiziell geltend gemacht.

Zwar ist die Bilanz der CIVS im Hinblick auf die Restitution von Kulturgütern bis in die Mitte der 2010er Jahre hinein bescheiden, ab 2013 verbessern sich jedoch die Ergebnisse, da sie sich aktiv um Rückgabe bemüht16 und zwar vor allem nach 2018, dank des Initiativrechts der Kommission17, die auch neue Mittel zur Verfügung gestellt bekommt.18 Das am 21. Februar 2022 verabschiedete Gesetz (Nr. 2022-218) über die Restitution bzw. Rückgabe bestimmter Kulturgüter an die Anspruchsberechtigten der Eigentümer, die den antisemitischen Verfolgungen zum Opfer gefallen waren, beweist teilweise diese vielversprechenden Ergebnisse.19

Das französische Modell der Reparation für entzogenes Kulturgut, das auf dem Prinzip einer Gerechtigkeit fordernden Schuld gegenüber den Opfern basiert, ist deshalb so einzigartig, weil es doppelt bedeutsam ist, und zwar in juristischer und verwaltungsrechtlicher Hinsicht, und zudem quasi nie verjährt. Diese Reparationspolitik mag jedoch noch so exemplarisch sein, sie wird unvermeidlich vor wichtige ethische Herausforderungen gestellt werden. In erster Linie betrifft dies das Ende der Reparationen (Restitutionen und Entschädigungen), womit sich in juristischer Hinsicht die Frage nach der Verjährung stellt, es betrifft aber auch die Frage der nachkommenden Generationen und die Verbindung zwischen direktem Opfer und den anspruchsberechtigten Personen, die Anspruch auf eine Reparation erheben.20 Eben deshalb ist es so schwierig und so missverständlich, den politischen Willen zur Begleichung einer unverjährbaren Schuld zu bekräftigen!